Das L-Boot "wachgeküsst"

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„Ich habe gelernt, dass ein klassischer Segel–Oldtimer keine Ansammlung von Holz, Nägeln, Tauwerk und sonstigen Bestandteilen ist, sondern dass es sich um ein lebendiges Wesen handelt, das sich nicht immer so verhält wie man es erwartet. Wer dies nicht versteht, wird nie den unbeschreiblichen Flair und die Nostalgie, die solch ein Schiff umgibt, verspüren – schade eigentlich!“
Gedanken eines L–Boot Seglers bei leichter Brise auf dem Bodensee
von Maurice Devoivre, L–84, Alter Herr, YCL

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Die schlanken Renner der L–Klasse, die auch als 30qm–Rennklasse bekannt ist, wurden als Antwort auf die „Reiche–Leute–Rennyachten“ der Sonderklasse entworfen. Sie erfreuten sich in den Jahren zwischen 1914 und 1930 großer Beliebtheit. Heute zählen die noch existierenden Boot zu einem raren Stück deutscher Segelgeschichte, denn von den teilweise über 80 Jahre alten Schiffen existieren heute nur noch etwa 30 Einheiten. Im Laufe der Jahre wurden die Schiffe dieser Klasse als „30qm–Rennklasse“, „30qm Nationale Kreuzer“ oder als „30qm–Binnenkieler“ bezeichnet. Ihres Segelzeichens wegen sind sie heute vor allem als L–Boote bekannt.

Die ersten Pläne einer „30qm–Rennklasse” tauchten 1913 auf. Die Erstregistrierung von L–1 „Motte” datiert aus dem dem Jahre 1914. Der Ursprung der L–Klasse ist wahrscheinlich auf dem Berliner Wannsee zu suchen, denn bei den meisten Neubauregistrierungen wurde als Heimatrevier der Wannsee angegeben. Aber auch auf Revieren wie dem Müggelsee oder dem Zeuthener See war diese Schiffsklasse zu jener Zeit gut vertreten. Ziel der L–Klasse–Bauvorschriften war ein Boot, das sowohl als Rennyacht als auch als „Daysailer“ einsetzbar war. Das Anforderungsprofil des halbgedeckten, kajütlosen Bootes mit 1.000 kg Mindestgewicht änderte sich jedoch schnell, denn durch die Form, den eleganten Riss und die Schnelligkeit wurden die Dreißiger in jenen Tagen fast ausschließlich auf Regatten eingesetzt.

Die Entwicklung der L–Klasse ist eng mit der Geschichte der Sonderklasse verknüpft. Die neue Bootsklasse sollte den Teil der Rennsegler ansprechen, für die ein Schiff der Sonderklasse mit 51qm Segelfläche und 1830kg Mindestgewicht einfach nicht erschwinglich war. In deren Klassenvorschrift ist noch heute der Passus zu lesen, dass „die Boote dieser Klasse nur von Herren der Gesellschaft gesegelt werden dürfen, die ihren Lebensunterhalt nicht durch ihrer Hände Arbeit verdienen“. Die L–Boote wurden wegen einiger Ähnlichkeiten in Form und Bauvorschriften schnell „Sonderklasse für Arme“ genannt.

Die Zeit, in der diese Klassen geboren wurden, stand technisch ganz im Zeichen des Prinzips „Länge läuft“. Wohl die reinste Verkörperung fand dieser Grundsatz in Form der Sonderklasse mit ihrer extrem kurzen Wasserlinie in aufrechter Schwimmlage, die sich bei Krängung massiv verlängerte. In der Sonderklasse ging die Entwicklung mit der Zeit zu immer extremeren Schiffen, deren Länge von 9,75 auf bis zu 12 Meter anwuchs. Späte Sonderklassen sind nur sehr sensibel zu segeln und konnten die festgesetzte Baupreisgrenze von 5.000 Reichsmark nur halten, indem die Ausstattung der Boote immer mehr abgespeckt wurde.

Um beim L–Boot derartige Auswüchse zu verhindern, setzte man die Mindestbreite über Deck auf 1,75 Meter fest und bestimmte, dass die größte Länge höchstens das 4,5–fache der gewählten Breite betragen dürfe. Von der Sonderklasse wurde das Raumrechteck übernommen, das zu Anfang sicherlich seinen Zweck erfüllt hat. Im Rückblick scheint es jedoch, dass das Raumrechteck in der Zeit zwischen 1914 und 1920 Fortschritte bei der Rumpfform hin zu schnelleren Rissen zu stark unterbunden hat; die Boote dieser Zeit erhielten mittschiffs einen „dicken Bauch“. Wirklich gut und sauber strakende Linien waren damit nur schwer zu vereinbar, was die Entwicklung des Geschwindigkeitspotentials erheblich behinderte.

Zu Anfang wiesen L–Boote eine maximale Wasserlinienlänge zwischen 5 und 5,5 Metern auf und damit eine maximale Länge über Deck von über sieben Metern. Das Mindestgewicht von 1.000 kg wurde dabei nicht übermäßig überschritten, denn es wurden in erster Linie Leichtwindboote gebaut. Namen wie „Motte“, „Kitz“, „Panther“, „Strolch D“, „Atout“, „Perle“ und „Wunsch“ gehören zu den Dreißigern jener ersten Stunde. Die hervorragenden Konstrukteure, die in dieser Zeit in der L–Klasse arbeiteten, vornehmlich W. v. Hacht, Harms und Franke, nutzten den Rahmen, den die Bauvorschriften setzten, schnell voll aus und so stagnierte mit der Zeit die Entwicklung.

Im Jahr 1921 gab Yachtdesigner Rasmussen der Szene neue Impulse, indem er Boote baute, die auf höhere Windgeschwindigkeiten ausgelegt waren. Die neue Philosophie „größere Verdrängung, mehr Länge, größere und fülligere Überhänge, breiteres Heck, eingezogene Spanten, kurzer Lateralplan“ trat ihren Siegeszug an. Die neue Generation der L–Boote war den älteren kleineren Leichtwindbooten erst bei mittleren Windgeschwindigkeiten überlegen, vor allem, wenn sie Lage schoben. Noch lange waren die älteren Schiffe bei den in Deutschland vorherrschenden leichten Winden konkurrenzfähig. Typische Vertreter dieser Periode sind unter anderem L–112 „Seestern“, mit der Rasmussen damals der Durchbruch gelang, sowie einige der berühmten „Carmen“–Bauten die unter F. Mödebeck viele Siege errangen. Sie waren ein Zeichen, dass Rasmussen den richtigen Weg beschritt.

Die Klasse wuchs schnell, weil viele engagierte Eigner ganz im Stil der heutigen Formel 1 jedes Jahr ein neues Boot bauen ließen. Auf den Berliner Seen fanden …

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… sich zwischen den Weltkriegen trotz der beschriebenen Entwicklungshemmnisse dichtbesetzte Regattafelder und das L–Boot erfreute sich großer Beliebtheit. Dies hing nicht nur mit dem Wirtschaftswunder und der zahlungskräftigen Fabrikantengeneration und Ärzteschaft zusammen; auch der Aspekt, dass das L–Boot das einzige kleinere, offene Kielboot war, das eben diese gut gesetzten Regattafelder vorweisen konnte, trug zur Massierung dieser Klasse im Berliner Raum bei. Im Laufe der Jahre führten die Einschränkungen jedoch dazu, dass es um die L–Klasse still wurde. Viele Segler forderten die Etablierung einer eher auf die Leichtwind–Binnenreviere optimierten, freien 30qm–Rennklasse, die mit der alten Formel nicht erfüllt werden konnte. Vor allem am Leichtwindrevier Bodensee geriet das L–Boot ab etwa 1930 in Vergessenheit. Ironischerweise ist der Bodensee heute der Ausgangspunkt der Renaissance der L–Klasse mit sieben aktiven Yachten und zwei Booten in Restaurierung.

Nach derzeitigem Wissensstand ist die „Bodman“, die 1914 auf der Naglo–Werft vom Stapel lief und heute noch mit großem Erfolg auf Regatten am Bodensee gesegelt wird, das älteste erhaltene L–Boot. Wie viele Boote tatsächlich noch hier und da – teils von „nichtsahnenden“ Besitzern, die gar nicht wissen, welchen Bootsklassiker–Typ sie besitzen – gesegelt werden, ist nicht bekannt.

Eine typische L–Boot–Historie zeigt sich bei L–84, „Alter Herr“, die heute am Bodensee liegt. Das Boot wurde im Jahr 1922 bei Abeking & Rassmusen in Lemwerder für Herr Julius Gipkens gebaut. Das Schiff nahm unter dem Namen „Gipsy X“ an verschiedenen Wettfahrten auf den Berliner Gewässern, insbesondere auf dem Wannsee teil und ist in den Wettfahrtlisten der Zeitschrift „Yacht“ mehrfach erwähnt. L–84 wurde 1925 an Herrn Major E. Stein verkauft und segelte unter dem Namen „Horns“ noch bis 1928 auf dem Wannsee. Im Jahre 1928 wurde in der „Yacht“ als Heimatrevier von L–84 der Starnberger See angegeben, wo L–84 unter dem Stander des Königlich Bayerischen Yachtclubs segelte. Das Schiff wird nach weiteren Besitzerwechseln an den Ammersee verlegt, wo das Boot schließlich ab 1935 als Clubschiff des Akademischen Seglervereins in München (ASV i.M.) erstmals unter dem heutigen Namen läuft. Das Boot wurde übrigens speziell für die älteren Segler im Verein angeschafft, daher der Name. Bis 1977 überlebte das Schiff in diesem Club, seit 1983 läuft es unter verschiedenen Eignern am Bodensee und ist seit 2001 im Besitz des stellvertretenden Vorsitzenden der Klassenvereinigung und damit ein Auslöser des Wiederauflebens der Klasse. Nach langen Jahren wird das Schiff wieder aktiv als L–Boot gesegelt und erhält derzeit seinen markanten Peitschenmast zurück, der 1953 bei einer Regatta brach.

Mit der Neugründung der L–Boot–Klassengemeinschaft im Jahr 1995 begann das „zweite Leben“ dieser eleganten Klasse. Erstes Ziel war es, die Aktivitäten der noch überlebenden Schiffe zu konzentrieren, um nach über 50 Jahren erstmals wieder in „Klassenstärke“ gegeneinander zu regattieren. Dies gelang erstmals 2002 beim ASViM und seinem HDL–Finale am Ammersee, wo der Auftritt von sechs L–Booten – von über 200 gebauten Einheiten dürften heute lediglich noch 30 Schiffe existieren – ein Höhepunkt war. Auf der Bodenseetraditionswoche 2003 waren wiederum sechs L–Boote mit von der Partie.

Aus Rechercheergebnissen war bekannt, dass der Thunersee in der Schweiz in den 1930er Jahren eine größere L–Boot–Flotte mit etwa 20 Einheiten beheimatete. Nachdem über das Internet L–188 „Hali“ dort entdeckt wurde, erwies sich der Thuner See beim ersten L–Boot–Treffen, das dort mit 13 Eignern stattfand, als wahre Fundgrube: Es fanden sich an dem Schweizer See noch fünf regattaklare Exemplare dieser Bootsklasse.

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Zu den aktuellen Tätigkeiten der Klasse zählt neben der Vergrößerung der Klasse, dem Aufspüren verschollener Boote und anschließender Restauration sowie der Pflege der teilweise über 80 Jahre alten Schiffe und der Organisation von Regatten in Klassenstärke vor allem die Organisation der Feier zum im Jahr 2004 anstehenden 90–jährigen Bestehen der Klasse. Die Vorbereitungen zu diesem Ereignis, das am Thunersee stattfinden soll, laufen bereits auf Hochtouren. Ziel ist, im August 2004 mit fünf bis sieben deutschen Booten an den Thunersee zu fahren, um dort mit den fünf segelklaren L–Booten gemeinsam das zu wiederholen, was in den 20er und 30er Jahren unserer Klasse den Ruhm brachte, „ein Formel 1 Renner“ auf dem Wasser zu sein. Mit 10 bis 12 Startern wäre dies die größte Regatta klassischer L–Boote nach dem Krieg.

Für Interessenten ist die Klassenvereinigung die erste Anlaufstelle; diese ist bestrebt, die letzten noch existierenden Yachten in gute Hände gelangen zu lassen, wo den Vollblutrennern zu neuem Glanz verholfen wird. Derzeit wird auf der Michelsen–Werft in Friedrichshafen–Seemoos mit der ehemaligen „Carmen III“ ein klassisches L–Boot im Rahmen einer aufwändigen Restaurierung neu aufgebaut. Das Boot mit der Segelnummer L–81 wurde von W. v. Hacht gezeichnet und 1922 fertiggestellt. Auf der Interboot 2004 soll die neuerweckte Yacht einen Blickfang auf dem Stand der Werft bilden; schon jetzt ist über die Website der L–Klasse unter www.l–boot.de ein Blick auf den Baufortschritt möglich. Neubauten sind ebenfalls in Planung; auch hier ist Hans Joachim Landolt und sein Team von der Michelsen–Werft Ansprechpartner der Klassenvereinigung, die hofft, schon bald die ersten neuen, nach der traditionellen Klassenvorschrift gebauten L–Boote beim DSV registrieren zu können, um so den Fortbestand der L–Klasse zu sichern.